Angst frisst Hund - Teil 2
Angst frisst Hund - Teil 2
Das Deprivationssyndrom beim Hund oder der ANGSTHUND
Irgendwann wird jeder Hundefreund einmal auf dem Begriff „Deprivationssyndrom“ oder „Deprivationsschaden“ treffen oder gar selbst mit diesem Syndrom bei seinem Hund oder als Hundetherapeut/-trainer beim Kundenhund damit konfrontiert.
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Hunde, die an diesem Syndrom leiden stammen aus dem Aus- und Inland, sowohl aus dem Tierschutz (In- & Ausland) als auch aus „Züchterhänden“. Im letzteren Fall ehr vom Vermehrer als vom liebevollen Verbands-Hobbyzüchter - sicherlich gibt es auch hier schwarze Schafe, dies soll aber jetzt nicht das Thema sein – aus dem Kofferraum oder einer „Welpen-Farm“.
Als Deprivationssyndrom bezeichnet man beim Hund die Summe der Symptome, die durch eine reizarme und/oder isolierte Aufzucht entstehen und sich dann im späteren Leben, in einer komplexen und anregenden (reizvollen) Umwelt durch Problemverhalten manifestieren. Beim Menschen spricht man auch von „Hospitalismus“.
Bei Deprivation beim Hund spricht man von Reizmangel/-entzug.
Der Begriff Deprivation (lat. deprivare ‚berauben‘) bezeichnet allgemein den Zustand der Entbehrung, des Entzuges, des Verlustes oder der Isolation von etwas Vertrautem.
Ein Deprivationsschaden ist in vielen Fällen die Folge von sozialer und/oder sensorischer Deprivation, genauer durch einem Mangel an sozialen Kontakten und Umweltreizen im kritischen Alter ab der 4 bis zur 16 Lebenswoche.
Die Vielfalt der Schädigungen ist groß und abhängig von der Dauer des erlittenen Mangels, dem Alter in dem der Mangel erlebt wurde, der Intensität des Mangels.
Was passiert in der Entwicklung?
Wenn sich das Gehirn vom Welpen entwickelt und sich die Milliarden Neuronen (Nervenzellen) des Hundehirns zu einem komplexen Netzwerk organisieren – von ersten fetalen Bewegungen im Mutterleib bis zum ca. 4. Lebensmonat (16 Wochen) – gehen miteinander verbundene sowie hochspezialisierte Systeme und Strukturen daraus hervor.
Im Gegensatz zu anderen, spezialisierten Organen im Körper wie Herz, Lunge oder Pankreas ist das Gehirn für tausende komplexe Funktionen und Abläufe verantwortlich. Die Nervenzellen im Gehirn geben Informationen per Transmitter (chemische Botenstoffe) an andere Zellen über die Synapsen weiter. Dies ermöglicht die komplette Hirnfunktion, darunter auch Bewegen, Fühlen und Wahrnehmen.
In seiner Entwicklung braucht das Gehirn den Einfluss von Sinnesreizen für eine gute neurale Vernetzung zwischen den Zellen. Zellen die nicht stimuliert oder gebraucht werden, sterben ab bzw. werden gar nicht erst ausgebildet und wichtige Verbindungen können nicht hergestellt werden.
Welche Auswirkungen hat das reizarme Aufwachsen auf einen Hund mit Deprivationssyndrom/schaden?
Der Mangel an Eindrücken kann verschiedene und vielfältige Folgen für den jeweiligen Hund haben, wie:
• Eingeschränkte Anpassungsfähigkeit des Hundes. Er kann sich nicht so flexibel an neue Umweltbedingungen / -reize anpassen, wie ein Hund, der das Deprivationssyndrom nicht hat.
• Hunde mit Syndrom sind schnell überfordert. Sie können sich schlecht bis gar nicht auf die vielen Reize, mit denen sie in einer normalen Umwelt konfrontiert werden, auseinandersetzen. Diese Hunde können Umgebungsinformationen nicht selektiv (wichtig/unwichtig) filtern. Jeder neue Reiz/Sinneseindruck lenkt diese Hunde sofort ab.
• Hohes Flucht- und/oder Meideverhalten, fast schon phobisches Verhalten, gegenüber allem unbekannten/neuen.
• Aggression kann auftreten und dann eine „gute“ Allzweckreaktion des Hundes werden
• Sie reagieren schnell über und unangemessen auf verschiedene Situationen und haben keine Fähigkeit der Selbstkontrolle.
• Konzentrationsstörungen
• Erlerntes wird schlecht oder nicht generalisiert
• Diese Hunde lernen auffallend langsamer
• Zwangsstörungen wie monotones Dauerbellen ohne Reiz, permanentes Schwanzjagen oder Dauerlecken/knabbern des eigenen Körpers, Boden oder Gegenstände (Stereotypien)
• Massive, chronisch anmutende, Angstzustände
• Überwachsam und permanent angespannt
• Unsauberkeit bzw. lösen sich lieber im „sicheren“ Zuhause als draußen
• Das Verhaltens-Repertoire besteht fast nur aus „Flight“ (Flucht) und „Freeze“ (Einfrieren, Vier-Pfoten-Bremse) und als letztes Mittel „Fight“ (Kämpfen)
Beispiele zu von Deprivation betroffenen Hunde
Viele, der in Deutschland gehaltenen und aufgewachsenen, Hunde haben einen Deprivationsschaden als Folge sozialer Deprivation. Dies geschieht bspw., wenn der Welpe in seine neue Familie kommt und nicht für kontrollierten Kontakt mit Artgenossen gesorgt wird. Oder der Hund von der Umwelt abgeschottet in einem Zwinger oder Keller gehalten wird.
Als häufige Folge äußert sich dies dann in Unsicherheit beim Interagieren mit anderen Hunden. Leinenaggression kann damit in Verbindung stehen, aber nicht jeder Leinen-Rambo leidet auch an einem Deprivationssyndrom. Ebenso häufig beobachtete Folgeschäden sind neben Angst vor Unbekanntem, Probleme mit dem Sozialverhalten allgemein bis hin zu Aggressivität gegen Artgenossen und Menschen.
Zudem können diese Hunde schlecht entspannen und/oder haben Konzentrations- und Kommunikationsschwierigkeiten. Sie reagieren überempfindlich auf bestimmte Reize oder die Nähe zu Menschen und Artgenossen. Die Hunde agieren überaus ängstlich und vorsichtig oder sie reagieren voller Hektik, Panik und erscheinen in vielen Fällen hyperaktiv.
Viele Welpen leben in der für die Verhaltensentwicklung sehr wichtigen Sozialisationsphase von der Umwelt abgeschottet in Tierheimen, Shelter oder sog. Welpenfarmen (Vermehrer) – zwar mit vielen anderen Hunden, aber weder mit kontrolliert geführten Artgleichkontakten und einem Mangel an Sozialkontakten zum Menschen.
Oft mit verheerenden Folgen für die Verhaltensentwicklung und das restliche Leben des betroffenen Hundes. Die Deprivationsschäden nehmen so ein extremes Ausmaß bei einigen Hunden an, so dass diese Hunde zeitlebens unvermittelbar bleiben. Jene Hunde verbringen ihr ganzes Leben in einem Heim, mit viel Glück auf einer speziellen Pflegestelle oder einem Gnadenhof.
Außerdem gibt es noch Welpen, die aus gesundheitlichen Gründen die Entwicklungsphase in Quarantäne verbringen. Oft nur in einem zu kleinen Käfig, ohne ausreichend soziale Kontakte, weder zum Menschen oder Artgenossen und die Quarantänezeit abgeschottet von der Umwelt und ihren Reizen zubringen müssen, bevor sie aus- oder einreisen dürfen oder vermittelt werden können.
Umsichtige Tierschutzvereine mit Auslandsvermittlung sollten dies bedenken und entsprechend handeln.
Folgende Faktoren können bspw. Deprivationsschäden bei Welpen nach sich ziehen:
• isolierte Haltung
• Leben auf der Straße mit keinen oder fast ausschließlich negativen Erfahrungen mit Menschen
• unbehandelte gesundheitliche Probleme
• schlechter Umgang mit den Hunden (Gewalt, keine Fürsorge)
• eine gestresste, kranke oder schlecht sozialisierte Mutterhündin
• Mangelernährung
Besonders gefährdet sind Welpen von Vermehrer, aus Tötungsstationen, Hunde die Laborhund waren oder Kofferraumwelpen. Bei Hunden, die aus dem Ausland stammen, findet man nicht selten die gesamte Palette ungünstiger Haltungs- und Aufzuchtsbedingungen.
Aber es gibt auch den Hund vom Land, durchaus gut aufgezogen, mit Familienanschluss und entspannt und normalem Verhalten in seiner ihm vertrauten Umgebung. Hier ist er vollkommen unauffällig, hat aber nie was anderes kennengelernt. Geht man mit diesem Hund nun spontan auf einen Ausflug in die Großstadt, kann es sein, dass er ziemlich hysterisch auf die wahrgenommene Reizüberflutung der Stadt reagiert. Müsste dieser Hund ab sofort in der Stadt leben besteht das Risiko, dass er dauerhaft ängstlich / unsicher bliebt. Er kann aber auch die Anpassung schaffen. Das kommt immer auch auf das Individuum, seinen Mensch und auf die weiteren Rahmenbedingungen an.
Wie hilft man einem Hund mit Deprivationsschaden und geht am besten mit seinem Defizit um?
Nun, mit reiner Konditionierung wird man bei einem Hund mit Deprivationssyndrom nicht weiterkommen. Diese Hunde brauchen Vertrauen und Struktur, mehr als jeder andere Hund.
Feste Rituale schaffen Sicherheit. Ruhephasen zum Stressabbau, die Förderung von Konzentration und Selbstsicherheit und die positive Bestätigung (Zuneigung, Futter, Beute) bei selbst erarbeiteten Erfolgserlebnissen (bspw. Futtersuchspiele oder auch Mantrailing) sind bei diesen Hunden immens wichtig und alles, was man bei verhaltensauffälligen Hunden üblicherweise abbaut, sollte hier bestätigt und gefördert werden.
Ein Hund mit Deprivationssyndrom sollte in einer ruhigen Umgebung, wo das Leben gut überschaubar und vorhersehbar ist, leben. Man sollte ihn nicht in einer Großstadt integrieren, wo für ihn die permanente Reizüberflutung vorherbestimmt ist.
Man sollte ihm die zwang- und gewaltfreie Möglichkeit des Lernens, ohne Überforderung, geben – denn wer Angst hat, kann nichts lernen.
Er sollte, im Schutz des Hundehalters, freiwillig neue Dinge kennen lernen und untersuchen können, wodurch sich auch ein Stück Vertrauen zum Hundehalter/-führer bilden kann.
Das Kennen der Körpersprache, viel Erfahrung in der Hundeerziehung, Empathie und ein Klima aus Ruhe und Geduld geben einen entscheidenden Vorteil im Handling eines Hundes mit Deprivationsschaden.
Zu Wissen und zu sehen, wann ein Hund Angst hat oder ob er gerade nur unterwürfig ist, zu erkennen was er zu leisten im Stande ist und wie man ihn sicher durch eine stressgeladene Situation führen kann, hilft der Weiterentwicklung dieses Hundes. Alles, was als Gewohnheit etabliert ist und jedes zusätzliche Signal, welches der defizitäre Hund kennt, erleichtert das Meistern schwieriger Situationen mit diesem Hund und gibt ihm Sicherheit.
Grundsätzlich besteht bei diesen Hunden ein akuter Therapiebedarf und chronische Angst ist kein akzeptabler Allgemeinzustand oder als selbstverständlich anzusehen!
Die Arbeit mit dem Deprivationshund bleibt ein lebenslanges Handling, dessen sollte man sich bewusst sein, es gibt keine Heilung nur Milderung! Hat man eine stabile Bindung zu dem Hund erarbeitet, aufgebaut und gefestigt können die Aktivitäten behutsam gesteigert werden – aber der Hund bestimmt bei allen Aktionen das Tempo – und neue Situationen, Umgebungen und Reize können hinzukommen und gemeinsam von Hund und Halter erkundet werden.
Kann das Deprivationssyndrom auch bei erwachsenen Hunden mit „normalen“ Leben, z. B. durch ein traumatisches Erlebnis ausgelöst werden?
Nein - da die Deprivation per Definition eine entwicklungsbedingte Störung durch Reizmangel, während der fetalen Entwicklung bis zur 16. Woche ist, kann späterer Reizmangel bei einem gut aufgezogenen Hund eher zu Stereotypien oder anderen Verhaltensproblemen führen. Traumatische Erfahrungen, bei normal aufgezogenen Hunden, können die Ursache für Angststörungen (Phobien) sein.
Eine Bitte an Hundetrainer
Wenn Sie bei einem Hund ein Deprivationssyndrom vermuten, schauen Sie genau hin und stellen keine vorschnellen, im schlimmsten Fall, falsche „Diagnosen“ und rauben damit Hoffnung und Lebensqualität.
• Testen Sie die Hunde genau aus
• Lassen Sie den Hund medizinisch abklären (Schmerzen lösen auch „Fehlverhalten“ aus) und lassen Sie ihren Verdacht durch einen Tierarzt absichern
• Überprüfen Sie die Mitarbeit der Hundehalter. Führt dieser seine Übungen korrekt aus, folgt er den „Therapieanweisungen“, kann er die geplanten Übungen umsetzen?
• Besteht im Hintergrund noch Stress bei Hund oder Halter?
• War ihr Vorgehen als Hundetrainer richtig und zielführend?
• Dokumentieren Sie alles
Erstellen Sie keine „Freibriefe“ für Hundehalter die ihre Trainingsanweisungen konsequent NICHT umsetzen. Die wenigsten „Rambos“ leiden an einer gesicherten Deprivation.
Zum guten Schluss
Geben Sie nicht auf, egal ob Halter oder Trainer, bevor nicht durch Dokumentation, eine Zweit- oder auch Drittmeinung (Tierärztlich und Hundetrainer) nicht gesichert feststeht, dass der Hund wirklich einen krankhaften - nicht heil- aber handelbaren - Schaden hat.
Ändern Sie Ihre Denkweisen und Handlungsmuster, schaffen Sie einen neuen Betrachtungswinkel, für sich und ihren Hund.
Ich wünsche jedem viel Kraft und Mut auf diesem Weg.
Bleiben Sie wissbegierig, Ihre Petra Puderbach-Wiesmeth
2023©CanisLogisch®
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Für Hundewelten - Berufsbildungsinstitut für Hundetrainer
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Zum weiterlesen
*Literatur: „Verhaltensmedizin beim Hund“, Sabine Schroll, Joel Dehasse, Enke Verlag 2016, 2. überarbeitete Auflage, Seite 271 / 272